Ein neuer Blick auf Compliance-Kultur: Das Sozialkapital

Werte, Normen und persönliche Netzwerke lassen sich als Sozialkapital gewinnbringend einsetzen.

Werte, Normen und persönliche Netzwerke lassen sich als Sozialkapital gewinnbringend einsetzen.

Compliance besteht nicht (nur) aus Regeln und Richtlinien. Regeln und Richtlinien sind ein wichtiger Teil von Corporate Compliance, aber eben nur ein Teil. Inzwischen rücken soziologische und psychologische Faktoren für die Compliance-Experten stärker in den Fokus. Die Soziologie hält einige spannende Ansätze bereit, die für die Betrachtung von Compliance- und Integritätsmanagement wichtige Ansätze liefern.

In meiner MBA-Abschlussarbeit habe ich mir einen dieser Ansätze genauer angesehen: Das Konzept des “Sozialkapitals”. Ziel war es, Sozialkapital und Corporate Compliance auf ihre Anknüpfungspunkte bei Werten, sozialen Normen und Netzwerk-Effekten hin zu untersuchen.

Die aktuelle Compliance-Forschung stellt zunehmend einen Bedarf an der Integration psychologischer und soziologischer Erkenntnisse fest. Dabei geht es vor allem um die individuellen Beweggründe für non-compliantes Verhalten. Während eine Integration psychologischer Dynamiken in die Compliance-Forschung grundsätzlich zu begrüßen ist, bleibt in der Forschung der soziale Aspekt in der zwischenmenschlichen Interaktion bis auf wenige Ausnahmen wenig berücksichtigt. Im Umfeld eines Unternehmens ist jedoch der soziale Aspekt in der Interaktion zwischen Mitarbeitern, Führungskräfte und Geschäftsleitung sehr relevant.

Der Begriff “Sozialkapital” wurde von Politikwissenschaftlern für Fragen der politischen Transition und des zivilen Engagements erarbeitet und fand in den 1990er Jahren schnell Verbreitung.

Sozialkapital besteht aus den kulturellen Aspekten Vertrauen, Werte und soziale Normen sowie aus strukturellen Aspekten, den Beziehungen in Netzwerken und sozialen Kontakten.

Sozialkapital ist damit einerseits das Produkt einer Beziehung und andererseits eine Ressource, die individuell eingesetzt werden kann. Sozialkapital ist also ein individuelles Gut, das einzelnen Personen zugeschrieben werden kann. Ebenso ist es auch ein kollektives Gut einer Organisation, das sich in der Unternehmenskultur zeigt und erlebbar wird. Durch die unterschiedlichen Betrachtungsebenen bietet das Konzept einen guten Ansatz, um Effekte auf der Makro-, Meso-, und Mikro-Ebene zu beschreiben.

In der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung  finden die Theorien zu Vertrauen und Netzwerken zwar große Verbreitung, beispielsweise in der Untersuchung von Karrierewegen und bei Kooperationsnetzwerken. Der für Sozialkapital wichtige Faktor “Werte” bleibt häufig außen vor.

Vertrauen, Werte und Normen sowie Netzwerke sind Faktoren, die eine positive Compliance-Kultur bilden. Share on X

Im Rahmen von Compliance haben Experten die Sozialkapital-Theorie erstmals bei der Ursachenforschung zu Betrug eingesetzt, um kriminelle Netzwerkeffekte nachzuweisen. Doch darüber hinaus bietet das Konzept des Sozialkapitals zusätzliche Werkzeuge für die Beschreibung einer Corporate-Compliance-Kultur. In meiner wissenschaftlichen Abschlussarbeit habe ich diesen Ansatz überprüft.

Wie die Untersuchung gezeigt hat, liefert das Sozialkapital-Konzept Methoden für die Untersuchung sowohl von strukturellen Netzwerke als auch inhaltlichen Faktoren wie Werte und Normen. In der Arbeit wurde ein Sozialkapital-Begriff verwendet, der Sozialkapital sowohl als kollektive Ressource des Unternehmens bzw. der Mitarbeiter als auch als individuelle Ressource einzelner Personen versteht.

Ausgehend von forschungsleitenden Annahmen, mit denen die explorative Untersuchung begonnen wurde, lassen sich anhand der Untersuchungsergebnisse folgende Hypothesen ableiten:

Hypothese 1: Das Sozialkapital-Konzept bietet produktive Kategorien zur Beschreibung und Untersuchung von Compliance-Kultur in Unternehmen.

 

Hypothese 2: Vertrauen, Werte und Normen sowie Netzwerke sind Faktoren, die eine positive Compliance-Kultur bilden.

Hypothese 3: Sozialkapital lässt sich für Compliance aktivieren, wenn beispielsweise Netzwerke innerhalb des Unternehmens aufgebaut und genutzt werden.

 

Die Ergebnisse der Arbeit bieten für die Compliance-Forschung einen wichtigen Zusatz. Die Integration von “weichen Faktoren” wie Beziehungen und gemeinsame Normen ergänzt die normativen Bestandteile von Compliance wie Richtlinien, Organisation und Kontrollsysteme auf der sozialen und inhaltlichen Ebene. Eine mehrdimensionale Beschreibung von Compliance-Kultur ist nun möglich.

Die Theoriediskussion bildete die Basis der wissenschaftlichen Ausarbeitung. Um die theoretischen Annahmen zu überprüfen, habe ich eine erste empirische Untersuchung erstellt. Für diese Untersuchung wurden qualitative Interviews mit Compliance-Funktionsträgern durchgeführt. Die zehn befragten Compliance-Verantwortlichen kamen dabei aus sehr unterschiedlichen Branchen: Von Privatbank, über Bundesunternehmen, Medienunternehmen, Industrie-Konzern, bis hin zu Handel und Konsumgünterindustrie.

Die Ergebnisse zeigen, dass sich die drei Variablen Werte/Normen, Vertrauen und Netzwerke in Bezug zu den Herausforderungen der Compliance-Managern setzen lassen. Die genannten Faktoren unterstützen oder behindern bestimmte Werte einer Unternehmenskultur sowie die Ausbildung einer gelebten Compliance-Kultur.

In der Untersuchung zeigte sich auch, dass die Experten einzelne Werte in einer Unternehmenskultur relevant für die Corporate Compliance sind. Während Werte wie Nachhaltigkeit und der Verzicht auf kurzfristige Geschäftserfolge sich günstig auf gesetzeskonformes Verhalten bei Mitarbeitern auswirken, kann Individualität für die Corporate Compliance kritisch sein. Auch in Branchen, die von persönlichen Beziehungen zu Kunden leben, das sogenannte People’s Business, ist Sensibilität angebracht. So kann im Geschäftsalltag der Grad zwischen guter Kundenbindung und Korruption manchmal sehr schmal sein.

Deutlich wurde auch, dass Vertrauen und Kontrolle keine Gegensätze sind, die sich ausschließen. Vielmehr sind sie zwei Seiten derselben Medaille, und ohne Kontrolle kann es kein gerechtfertigtes Vertrauen geben. Niklas Luhmann legte dar, dass in Systeme Vertrauen nur mit einer institutionalisierten Systemkontrolle funktioniert. In der vorliegenden Arbeit wurde argumentiert, dass Compliance-Manager die beschriebene Systemkontrolle darstellen und damit eine besondere Position bei der Entwicklung von Systemvertrauen bei Mitarbeitern innehaben. Welche Pflichten und Chancen sich dadurch für das Berufsbild des Compliance-Managers ergeben, muss an anderer Stelle untersucht werden.

Und drittens können Compliance-Manager unternehmensinterne Netzwerke aktiv für ihre Zwecke einsetzen. Wie in den Interviews deutlich wurde, wird das Potenzial des eigenen Netzwerkes nicht von allen Compliance-Managern bereits strategisch genutzt.

Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Untersuchung bieten darüber hinaus Handlungsanregungen für die Compliance-Praxis:

  • Wer sich mit potenziellen Compliance-Risiken in der Organisation beschäftigen möchte, sollte einen Blick auf die Werte und sozialen Normen werfen. Dies kann sowohl über eine anonyme Mitarbeiterbefragung, Diskussionen von Fokusgruppen als auch Tiefeninterviews mit ausgewählten Führungskräften und Mitarbeitern erfolgen.
  • Eine Analyse der Werte in der Unternehmenskultur liefert einen Überblick, welche Werte die Corporate Compliance unterstützen und wo potenzielle Risiken lauern. Ziel ist dabei nicht, vermeintlich riskante Werte zu drehen oder zu eliminieren. Viel mehr sollte die Zielsetzung sein, diese scheinbar kritischen Werte in einem Konzept zur Compliance-Kommunikation passgenau zu adressieren. 
  • Vertrauen ist ohne Kontrolle nur Hoffnung. Unternehmer, die neu in Compliance investieren, sind daher gut beraten, wenn sie nicht nur ein Kontrollsystem einführen, sondern zugleich mit den Mitarbeitern und Führungskräften in einen Dialog über Vertrauenskultur treten.

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Nicht zuletzt ist die Auswahl des Untersuchungsgegenstandes “Compliance” als Beispiel zu sehen für eine Überprüfung der Sozialkapital-Theorie im Rahmen der organisationswissenschaftlichen Forschung. Das Beispiel Compliance steht stellvertretend für die Einführung von Struktur- und Strategie-Veränderungen. Die Ergebnisse der Arbeit gelten daher auch für Veränderungsprojekte und Change-Prozesse in Unternehmen.